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KURZPROSA-NAVI: streifzUG VIER
streifzug vier ...
... beginnt narrativ (also erzählend, wie eine kürzestgeschichte)

geschichten (von artur knoff / günter grass): "als vater wieder heiraten wollte, sagten wir nein. nicht wegen mama, nur so" und "nie wieder nehme ich dieses kind auf ein begräbnis mit. es lacht und findet alles lustig" - zwei auftakte zu (kürzest)geschichten im wahrsten sinne des wortes: durch und durch narrativ gestaltet wirken knoffs kleine formen hier wie etüden eines großen erzählers (und das ist der autor der blechtrommel ja auch)

im vergleich dazu wirken peter bichsels auf andere weise faszinierende texte ("eigentlich möchte frau blum den milchmann kennen lernen") weniger narrativ. laut verlag (klappentext) handelt es sich zwar um geschichten. aber hier zögere ich. Sie auch? denn bei bichsel gibt es wenig äußeres geschehen, viel innenwelt, wenig linear voranschreitendes (was er-zählt oder aufgezählt werden könnte i.S.v. "erst passierte dies ... als zweites das ... und dann ... ") auch beispiele für einen personalen erzählstil oder für experimentelle sprache in romanen können das konzept des narrativen nicht so überzeugend erweitern, dass bichsel und andere kurzprosa-autoren als erzähler von geschichten gelten können. bichsel scheint die skepsis gegenüber der haltung des erzählens zu teilen: der text "roman" wirkt wie eine parodie oder ein spott auf romane

ein erstes fazit: kurzprosa ist nicht zwingend narrativ. da sie als kleine form auf sich gestellt und ohne größeren kontext funktionieren muss, sucht sie gerne nach alternativen

streifzug vier ...
... wird jetzt experimentell

die eben heraus gearbeitete skepsis gegenüber dem narrativen bringt wondratschek auf den punkt: "nur die sätze zählen ... die geschichten machen keinen spaß mehr" (in: früher begann der tag mit einer schusswunde). "der roman ist nur noch der spitzname für literatur" (in: ein bauer zeugt mit einer bäuerin einen bauernjungen, der unbedingt knecht werden will"). beide bände wirken dissoziiert durch ihre satzstrukturen ("sätze reagieren auf sätze")

auch der band "felder" von jürgen becker versammelt experimentelle nicht-narrative prosa-texte: "es war während der allgemeinen geräuschvermischung und des stimmentauschens in meinem radiokopf voll täglich vergangener erfahrung und jetzt und vorbei und kommt wieder dies" (seite 15)

zahlreiche beispiele für experimentelle prosa finden sich bei franz mon (in: zuflucht bei fliegen), so z.b. "modell einer parabel" (1960 verfasst): "alle stellen sich auf. keiner macht einen schritt. einer tritt einen schritt vor. alle schauen nach links ..." franz mon spielt permutationen von syntax systematisch durch; semantik entsteht nebenbei und fernab von einem klassischen ideal schöner sprache, fernab auch von der "ichigkeit" der literatur um 1960

streifzug vier ...
... fragt als kleiner exkurs (nachdem es bereits narrativ und experimentell zuging und bevor es lyrisch wird), ob weitere kurzprosa-sprachen existieren? so könnte man aphoristisch-spruchartig oder essayistisch oder philosophisch abzweigen (drei kurze ausblicke in diese richtungen)

blick auf günter bruno fuchs: "ordnung muss sein, sagte der anarchist und warf die bombe ins rathaus"

ein beispiel von hermann hesse: "kein mensch fühlt im anderen eine schwingung mit, ohne dass er sie selbst in sich hat"

blick zu kurt tucholskys sprachglossen (in: sprache ist eine waffe): "eigentlich ist ... kein wort. das ist eine lebensauffassung ..."

streifzug vier ...
... mündet in lyriknahe kurzprosa

weiter weiter (von sarah kirsch, in: la pagerie, erster text): "manch schöner schwan glättet die flügel vor den toren der nougatfabrik"

seite 41 in: vater telefoniert mit den fliegen (von herta müller) beginnt "woher kommt das militärorchester in die bäume und die holzspange in die särge und die luftfracht in den hunger der schwalbe - eine art gesteigerter schnurrbart - ..."

was ist kurzprosa? an anderer stelle hatten wir uns (zugegeben plakativ) literatur als dreieck vorgestellt mit einem theaterstück, einem roman und einem gedicht an den ecken. auf dem weg vom roman zum gedicht (vorbei an längeren erzählungen und novellen) "liegt" kurzprosa demnach zwischen kurzgeschichte und gedicht. deshalb beginnt streifzug vier narrativ und endet lyrisch. und jetzt wissen Sie auch, was ich mit übergangsregionen und offenen grenzen meinte ...

 

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