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KURZPROSA-NAVI: streifzUG EINS
streifzug eins ...
... beginnt beim individuum

die bäume (von franz kafka, in: betrachtung): es gibt kein explizites "ich". dennoch ist der text "ichig" (vgl franz mon zu "ichigkeit"), da es ein "wir" gibt ("wir sind wie bäume") und ein "du" (es steckt in dem satz "aber sieh, sogar das ist nur scheinbar")

der tränenwärmer (von elias canetti, in: der ohren-zeuge): eine von fünfzig kleinen skurrilen charakter-studien, geschrieben in der dritten person ("er" und "man", zitat "die leute sterben nicht immer, wenn man traurig sein will, die meisten haben ihr zähes leben und bocken")

vor dem fotoautomaten (von peter handke, in: das gewicht der welt, seite 14): eine kürzestgeschichte, die keine sein will und mit dem thema identität spielt ("heraus käme das bild eines anderen"), geschrieben 35 jahre vor aufkommen der selfies. an dieser stelle auch ein kino-tipp (dvd ab mai 2017): "bin im wald. kann sein, dass ich mich verspäte" ist ein sehenswerter film über den autor, nicht nur für handke-fans

hahnenschrei (von sarah kirsch, in: irrstern): hohe subjektivität entsteht aus emotion ("es ist ein nettes gefühl, so früh am morgen weit vor das haus zu treten, wenn die lerchen in der eiskalten luft sich befinden und mit singen befasst sind") und "man" am ende ("so aber wird man ... durch den löchrigen nebel gehn seine pflichten zu erfüllen")

die neunundvierzigste ausschweifung (von ror wolf, in: zwei oder drei jahre später): der typische kurzprosa-"sound" ror wolfs (erzählen durch nicht-erzählen / abbrechen / ungesagt-lassen / sich beim erzählen zuhören und korrigieren) wird transportiert in einen größeren, biografischen bogen (auftakt "meine sehr verehrten damen und herren, Sie erwarten von mir, dass ich Ihnen etwas aus meinem leben erzähle ...", sehr hörenswert auch als audio-cd gelesen von christian brückner)

bin ich triboll? (von gisela elsner mit klaus roehler, in: triboll. lebenslauf eines erstaunlichen mannes): "über meinem briefkasten steht triboll. bin ich deshalb triboll? oder wer bin ich sonst? weiß einer, wer ich bin?" erstaunliche texte einer jungen autorin, frisch und gegenwärtig zu lesen 60 jahre nach erscheinen. übrigens: gisela elsners leben wurde verfilmt von ihrem sohn oskar roehler im jahr 2000 mit hannelore elsner in der titelrolle als "die unberührbare"

streifzug eins ...
... geht weiter, indem sich menschen begegnen

sofie (von artur knoff / günter grass, in: geschichten): "nie wieder nehme ich dieses kind auf ein begräbnis mit. es lacht und findet alles lustig" wird weiter erzählt bis zum freund, der am ende der beerdigung verärgert bleibt, "obwohl ich dem kind seinen lachenden mund mit feuchter erde stopfte"

vater war wieder so müd (von herta müller, in: vater telefoniert mit den fliegen, textanfang seite 29): wunderbare lyrik-nahe kurzprosa-collagen in postkartenformat, perspektive des kindes mit dem vater, der im gehen schläft, und mit mutters "ameisenhügelfrisur" ("doch darin stand dieser helle kamm wie eine geschälte garnele")

eigentlich möchte frau blum den milchmann kennen lernen (von peter bichsel, die titel-geschichte im gleichnamigen band): wie im titel zu erahnen bleibt die kommunikation zwischen frau blum und dem milchmann indirekt

streifzug eins ...
... erreicht die gesellschaft ("wir alle" sind gemeint)

die bäume (von franz kafka, in: betrachtung): ein winterspaziergang mit gefällten bäumen im schnee ruft zwei wahrnehmungen auf (man kann die baumstämme wegrollen versus sie sind fest mit dem boden verbunden). beide wahrnehmungen für sich genommen sind nur scheinbar gültig. die frage "was ist realität?" wird durch lediglich drei wörter ("wir sind wie", nämlich baumstämme im schnee) zur frage "was ist identität?" und damit zur frage "wer sind wir?"

früher begann der tag mit einer schusswunde (von wolf wondratschek): indem er sätze aufspießt und seziert, sie aber auch wie wimmelnde einzeller aufeinander stoßen lässt, gelingt wondratschek in seinem ersten buch eine beeindruckende sprach-collage über das deutschland der endsechziger jahre

die wunderbaren jahre (von reiner kunze): alltags-beobachtungen der ostdeutschen realität mitte 70er jahre, formuliert aus dem kindermund verschiedener altersstufen ("sechsjähriger", "achtjähriger" usw)

die schreie der fledermäuse (von günter kunert, in: tagträume) und geschichten vom herrn keuner (von bertolt brecht): auf die gesellschaft bezogene parabeln
 

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